Reichspogromnacht: 9./10.11.1938

Vor mehr als 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, brannten die Synagogen. Sie brannten in Baden, Württemberg und Hohenzollern genauso wie im gesamten Deutschen Reich.

Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem Tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens nun konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte.

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Der Begriff

Die verharmlosende Bezeichnung Reichskristallnacht“, deren Herkunft nicht definitiv geklärt ist, bildete sich für den reichsweiten Pogrom (gewalttätige Aktion gegen Menschen, die einer Minderheit angehören) gegen die Juden im Deutschen Reich, der am 9./10. November 1938 stattfand.

„Kristallnacht'“ bezieht sich auf die überall verstreuten Glasscherben vor den zerstörten Wohnungen, Läden und Büros, Synagogen und öffentlichen jüdischen Einrichtungen.

Der Begriff Reichspogromnacht (oder auch Pogromnacht bzw. Novemberpogrom) hat sich erst in jüngster Zeit verbreitet und im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt, um das belastete Wort „Reichskristallnacht“ zu ersetzen.

Zur Begrifferklärung: BpB, siehe „Reichskristallnacht"

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Freigabe des Pogroms

Das Pogrom wurde am Abend des alljährlichen Treffens der NSDAP-Führerschaft anlässlich des gescheiterten Hitler-Putsches am 9. November 1923 nach Zustimmung Hitlers von Propagandaminister Josef Goebbels durch eine Hetzrede ausgelöst. Goebbels verwies auf die bereits stattgefundenen Pogrome in Kurhessen und Madgeburg-Anhalt und machte die Bemerkung, dass die Partei antijüdische Aktionen zwar nicht organisieren, aber auch nicht behindern werde. Anschließend gaben die SA-Führer von München aus telefonisch entsprechende Befehle an ihre Stäbe und Mannschaften durch.

NS-Archiv: Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei, in seinem Fernschreiben (10.11.1938) an die Staatspolizeistellen:

  • Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (z. B. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung gegeben ist).
  • Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.
  • In Geschäftstraßen ist besonders darauf zu achten, dass nichtjüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.

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Attentat als Anlass zur Reichspogromnacht

Das Attentat am 7. November 1938 auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch den 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan wurde zum Anlass für einen gegen die Juden gerichteten und angeordneten Pogrom genommen – eine Mord-, Brandstiftungs- und Plünderungs-, in letzter Konsequenz auch Raub- und Vertreibungsaktion bisher nicht gekannten Ausmaßes.

In einem barbarischen Terrorakt setzten SA- und NSDAP-Mitglieder Synagogen in Brand, deren Trümmer später z. T. gesprengt wurden. Sie zerstörten mehr als 7.000 Geschäfte jüdischer Einzelhändler und verwüsteten Wohnungen der Juden. Sie töteten nach offiziellen Angaben insgesamt 91 Personen (Quelle: Geheimbericht des Obersten Parteigerichts vom 13. Februar 1939). Die genaue Zahl derer, die infolge von Leid und Schrecken und später in den Konzentrationslagern umkamen, ist nicht bekannt. Schätzungen von Historikern gehen von weit mehr als 1.300 Menschen aus, die während und unmittelbar in Folge der Ausschreitungen starben (Quelle: Deutsches Historisches Museum).

An den Aktionen beteiligten sich auch Angehörige der Hitlerjugend und weiterer NS-Organisationen. Der Mob nutzte die Chance zur Plünderung. Die Deutschen wurden Zeugen, wie die Menschenrechte und die Menschenwürde im wahrsten Sinne des Wortes mit Füßen getreten wurden. Unter den Gaffern wurde gejubelt und gejohlt, andere haben schweigend oder gleichgültig hingenommen, was geschah. Die Juden wurden in dieser Nacht nahezu allein gelassen.

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Folgen der Pogromnacht

Juden wurden von nun an in nie dagewesenem Ausmaß verfolgt, verschleppt und diskriminiert. SS und Gestapo organisierten die Verschleppung einer nicht exakt festgestellten Zahl jüdischer Männer und Jugendlicher (etwa 26.000) in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Viele von ihnen kamen dort infolge von körperlichen und psychischen Schikanen, von Medikamentenentzug und anderen Misshandlungen um. Anderen wurde der Verzicht auf Eigentum abgezwungen. Die Masse der Inhaftierten kam erst nach Auswanderungserklärungen frei. Im Anschluss an die Pogromnacht wurden fast alle jüdischen Organisationen aufgelöst und die jüdische Presse verboten. 

Jüdinnen und Juden durften fortan keinen Handel, kein Handwerk und kein Gewerbe mehr betreiben. Diskriminierungen, Verbote und Auflagen wurden immer mehr, sie umfassten das gesamte alltägliche Leben - den Juden in Deutschland wurde damit jegliche Existenzgrundlage genommen. Wer konnte, flüchtete aus Deutschland.

(Karte aus: Die inszenierte Empörung – Der 9. November 1938, bpb, Bonn 1910, Kapitel 2, S. 10 - Download als PDF)

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Fakten über die Reichspogromnacht

Das Geschehen während der Reichspogromnacht wird gemeinhin als eines der am besten dokumentierten Ereignisse der nationalsozialistischen Zeit bezeichnet. Nach anfänglichen Diskussionen und Kontroversen gelten für die Geschichtswissenschaft inzwischen folgende Tatsachen als unabweisbar:

  1. Die Aktionen des 9. und 10. November 1938 waren von oben zentral angeordnet.
     
  2. Sie waren nicht längerfristig geplant oder vorbereitet, sondern kurzfristig nach dem Bekanntwerden des Attentats von Paris initiiert worden.
     
  3. Sie wurden in erster Linie von Parteistellen der NSDAP und Einheiten der SA sowie Behörden insbesondere der Polizei und Feuerwehr durchgeführt.
     
  4. Nach ihrer Ingangsetzung nahmen auch nicht organisierte Menschen in fast allen Städten in nicht unerheblichem Maß an den Ausschreitungen teil; dies gilt insbesondere für die Plünderung jüdischer Geschäfte und Wohnhäuser, aber auch für tätliche Angriffe und körperliche Misshandlungen.
     

Reichspogromnacht als „brutale geschichtliche Zäsur“

Der Novemberpogrom fällt in eine historische Konstellation, in der die „Judenpolitik“  des nationalsozialistischen Regimes an einem Wendepunkt angelangt war. Er markiert End- und Anfangspunkt einer Entwicklung. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 steht für den Antisemitismus in Deutschland und den Wandel hin zu einer Entwicklung, die in einer „Endlösung der Judenfrage“ im Sinne der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich mündete.

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Video: Novemberpogrome 1938

Wie wurden aus Nachbarn Todfeinde? (TerraX)

Reichspogromnacht

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Weiterführende Informationen

Literatur

Reihe Materialien: Juden von Buttenhausen

Reihe Materialien: „Wir als Juden können diese Zeit nie vergessen“ – Die Juden von Buttenhausen – Vom Leben und Untergang einer Landgemeinde in Württemberg. Stuttgart 2013.
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Reihe Materialien: Vom Neckar ans Mittelmeer

Reihe Materialien: „Vom Neckar ans Mittelmeer – Jüdische Flüchtlinge aus dem schwäbischen Dorf Rexingen gründen 1938 eine Gemeinde in Galiläa“. Stuttgart 2008.
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Die inszenierte Empörung – Der 9. November 1938Die inszenierte Empörung – Der 9. November 1938

Die vorliegenden Materialien dienen dazu, einen Projekttag zum 9. November 1938 zu ermöglichen. Bereitgestellt werden in fünf Kapiteln Grundinformationen (Kap. 1) sowie Quellen und Materialien (Kap. 2–5) zu Vorgeschichte, Ablauf und Folgen des Novemberpogroms und zu seiner historischen Einordnung in den Kontext der NS-Judenpolitik.  mehr

Die Nacht als die Synagogen brannten – Texte und Materialien zum 9. November 1938Die Nacht als die Synagogen brannten Texte und Materialien zum 9. November 1938

Trotz einer als hinlänglich gut zu bewertenden Erforschung der historischen Abläufe vor Ort bleibt das Gesamtgeschehen des Novemberpogroms 1938 für verschiedene Deutungsmuster offen. Vor deren Hintergrund könnte es hier reizvoll sein, bereits bekannte Quellen neu zu lesen und zu interpretieren. mehr


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Letzte Aktualisierung: Oktober 2023, Internetredaktion der LpB BW.

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