Baustein

"Zwischen Romantisierung und Rassismus"


Sinti und Roma
600 Jahre in Deutschland

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998



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Inhaltsverzeichnis 


 

Michail Krausnick
Der Völkermord der unterschlagen wurde
oder: Der Bericht des Hermann W.


Ein chronologischer Abriß1

Der Völkermord an über 500.000 Sinti und Roma und Millionen Juden ist ein in der Geschichte der Menschheit einzigartiges Verbrechen, das sich jeder Gleichsetzung mit anderen Greueltaten und Völkermordverbrechen entzieht. Einzig und allein aus sogenannten Gründen der Rasse" wurden die Opfer im gesamten europäischen Machtbereich der Nationalsozialisten ausgegrenzt, entwürdigt, entrechtet, verfolgt und ermordet. Die besonderen Merkmale dieser im deutschen Namen vollzogenen Verbrechen sind:

- die ideologische Vorbereitung

- die systematische Organisation

- die totale Erfassung

- die bürokratische Planung

- die fabrikmäßige Vernichtung.

Der Holocaust war eben kein blindes Wüten, kein haßerfüllter Exzeß, kein Pogrom, sondern politisches Programm, er wurde kaltblütig und kontrolliert vollzogen. Die Entwürdigung, Verleumdung, Beraubung und Deportation der Opfer fand in aller Öffentlichkeit statt.

Grundlage war die in Universitätsschriften wie Schulbüchern verbreitete Rassenideologie der Nazis, die Aufteilung in Herrenmenschen" und Untermenschen". Das erklärte Ziel wurde Ausmerzen" oder Reinigung des Volkskörpers" genannt und bedeutete am Ende nichts anderes als die Vernichtung aller Juden, Sinti und Roma vom gerade geborenen Säugling bis zu den alten Menschen. Keiner sollte entkommen.

Die rund 600jährige Geschichte der Sinti und Roma in Mitteleuropa war von Anbeginn an eine Geschichte der Verfolgung, der Diskriminierung und Entrechtung, des versteckten und offenen Rassismus und der Kriminalisierung. Dennoch blieben Möglichkeiten des Lebens und Überlebens, und schließlich auch, ähnlich wie bei den Juden, der Integration. Zum Zivilisationsbruch", zu dem in der Geschichte der Menschheit einzigartigen Verbrechen des Holocaust, aber kam es in diesem Jahrhundert mit dem Völkermord an Juden, Sinti und Roma.

Bereits im Jahre 1931 hatte eine Stelle der SS in München mit der Erfassung der Juden und Zigeuner", der beiden sogenannten außereuropäischen Fremdrassen", begonnen. Vom Beginn der NS-Herrschaft an, wurden Sinti und Roma ebenso wie Juden aus rassistischen Gründen verfolgt und ausgegrenzt. Gleich 1933 verlangte das Rasse und Siedlungsamt" der SS in Berlin, daß Zigeuner und Zigeunermischlinge" in der Regel unfruchtbar gemacht werden.

Die Nürnberger Gesetze" des Jahre 1935 stellten Sinti und Roma in der gesetzlichen Verfolgung mit den Juden gleich.2 Und bereits am 3. Januar 1936 verfügte der Minister des Innern, Frick, in einer vertraulichen Mitteilung an alle Landesregierung, Standesämter, Aufsichtsbehörden und Gesundheitsämter die Anwendung des Blutschutzgesetzes an und bemerkt. Zu den artfremden Rassen gehären alle anderen Rassen, das sind in Europa außer den Juden regelmäßig nur die Zigeuner."3

Zu den artfremden Rassen gehören ... die Zigeuner"

Damit wurde zum erstenmal in einem amtlichen NS-Dokument die Gleichstellung der Juden und Zigeuner offiziell angeordnet. Durch die Anwendung des Reichsbürgergesetzes" und des Blutschutzgesetzes" verloren Sinti und Roma zusammen mit den jüdischen Bürgern ihre deutsche Staatsbürgerschaft; Ehen zwischen Sinti oder Roma und sogenannten Ariern" wurden verboten. 1937 und 1938 erfolgten erste Berufsverbote für Selbständige und Beamte. Neben der Lohnsteuer wurde eine Rassensondersteuer" eingeführt, da Zigeuner" - laut der Parteikanzlei der NSDAP - gewisse rassische Ähnlichkeiten mit den Juden aufweisen".

Die Nationalsozialisten standen allerdings bei den katholischen und evangelischen Sinti und Roma, die nicht von den Weimarer Behörden als Zigeuner" erfaßt waren, zunächst einmal vor dem Problem der Rassendiagnose". Deshalb wurde im November 1936 im Reichsgesundheitsamt in Berlin das Rassenhygieneinstitut" unter der Leitung des Tübinger Kinder- und Nervenarztes Dr. Robert Ritter eingerichtet. Dr. Adolf Würth, ebenso wie Eva Justin und Sophie Erhardt ein führender Mitarbeiter des Rassenhygieneinstituts", formulierte 1938 im Anthropologischen Anzeiger" als Zielvorstellung:

"So wie der nationalsozialistische Staat die Judenfrage gelöst hat, so wird er auch die Zigeunerfrage grundsätzlich regeln müssen."4

Die Absicht der Nazis zur endgültigen Lösung der Zigeunerfrage", so immer wieder ihre Sprache, stand von Anfang an und lange vor Kriegsbeginn fest. Es ging nur noch um den pseudowissenschaftlichen Vorwand, um die organisatorischen Voraussetzungen und die Detailmaßnahmen zur Durchführung des Völkermordes. Die in den Hetzkampagnen der NS-Presse verbreiteten Verleumdungen wurden von Nazi-Wissenschaftlern zu rassenbiologischen Erkenntnissen" hochgestapelt. Im Grunde aber betrieb das Berliner Institut für Rassenhygiene" nichts anderes als eine systematische Ausgrenzung und Erfassung, auf deren Grundlage die Nazis 500.000 Sinti und Roma bestialisch ermordeten.

Die sogenannten Rassengutachten", (d.h. die gutachterlichen Äußerungen der Rassenhygienischen Forschungsstelle), unterzeichnet von Ritter, Justin, Erhardt, Würth u.a., waren die Todesurteile, die den Ausschlag für die Deportation in die Konzentrationslager gaben. Die sogenannte Evakuierung" ins KZ oder die Zwangssterilisation (Unfruchtbarmachung) empfahlen sie ausdrücklich. Auch sogenannte 1/8 Zigeunermischlinge", d.h. wenn sich nach Ansicht der Rassenforscher unter den acht Urgroßeltern nur ein einziger Zigeuner" befand, wurden in das Vernichtungsprogramm einbezogen. Im Unterschied dazu ließ man die 1/4 Juden" fast unbeachtet.

Den Kindern brachten sie Bonbons mit ..."

Herrmann W. aus Karlsruhe, der damals 14 Jahre alt war, ist einer der wenigen Überlebenden. Als Zeitzeuge hat er über die Erfassung der Sinti durch die Rassebiologen" berichtet: Ja, diese Untersuchungen - damit fing es an. Die Justin, die war ja auch bei uns in Karlsruhe, zusammen mit dem Ritter. Erst hat man uns Blut genommen, auf dem Polizeipräsidium. Und dann hat man die Haarfarbe, die Augen - alles notiert. Den Kindern brachten sie Bonbons mit oder Schokolade - haben immer ganz freundlich getan. Aber wir konnten uns ja auch nicht wehren. Wenn die uns bestellt haben, dann mußten wir einfach hin. Sonst wäre man verhaftet worden. Es war ja das Polizeipräsidium!"5

Kein Volk der Erde wurde jemals systematischer erfaßt und erforscht. Auftraggeber war der Reichsführer SS Heinrich Himmler. Nach den verschiedenen Mischlingsgraden sollte selektiert und - so die Sprache der Nazis - ausgemerzt" werden. Ab 1938 unterstand das Rassehygieneinstitut" direkt dem Reichssicherheitshauptamt. Ritters unmittelbarer Dienstvorgesetzter wurde der Reichskriminaldirektor und SS-Oberführer Arthur Nebe. Vom 13. Juni bis August 1938 wurden bereits in einer Sonderaktion zahlreiche Sinti und Roma nach den Kriterien, - Zitat aus dem Nazi-Dokument - : Zigeuner männlich, erwachsen und standesamtlich nicht verheiratet" in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald und später auch nach Mauthausen deportiert. Im gleichen Jahr wurden die Sinti und Roma festgesetzt und damit vor allem diejenigen, die berufsmäßig auf das Reisen angewiesen waren, arbeitslos gemacht. Auch davon berichtete Herrmann W.: 1938 durften wir schon die Stadt, den Bezirk Karlsruhe, nicht mehr verlassen. Wenn man nach Württemberg oder in die Pfalz wollte, mußte man als Zigeuner" erst einen Passierschein beantragen. Sonst war das kriminell. Da durfte man nicht mehr wie vorher seine Verwandten besuchen. Als uns einmal die Tante aus der Pfalz besucht hat, ist die Polizei gekommen und hat sie morgens einfach mitgenommen. Drei Tage Gefängnis! Da hat es geheißen: Ankunft und Anmelden."

Im Oktober 1938 übernahm der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Himmler, die 1926 gegründete Zigeunerpolizeileitstelle in München samt Personal und Akten in das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin (ab 27.9.1939 Amt V des Reichssicherheitshauptamtes). Sie erhielt dort die neue Bezeichnung Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens". Am 8. Dezember 1938 erging Himmlers Runderlaß, bzw. Grunderlaß" zur Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen der Rasse heraus"6. Die Feststellung" der Zigeuner"-Zugehörigkeit habe das Reichssicherheitshauptamt aufgrund von Ritters Rassegutachten" zu treffen. Bis Ende 1944 wurden rund 24.000 dieser sogenannten Gutachten" erstellt. Am 27. April 1940 folgte Himmlers Anordnung zur ersten Deportation ganzer Sinti und Roma Familien in das sogenannte Generalgouvernement.

Da kam dann die Kriminalpolizei ..."

Der 16. Mai 1940 war für viele Sinti ein schicksalhafter Tag: der Beginn der ersten großen familienweisen Massendeportation in die Ghettos, Arbeits- und Konzentrationslager in den besetzten polnischen Gebieten. Für Herrmann W. und seine Verwandten kam das ganz plötzlich, war es wie ein Überfall im Morgengrauen: Da kam dann die Kriminalpolizei und hat gesagt, wir müssen uns alle im Polizeipräsidium melden. Alle! Alle Sinti vom Kreis Karlsruhe. Wir durften nur unsere Betten, also Kleinigkeiten mitnehmen, das war genau vorgeschrieben... Ja, und als wir dann im Hof vom Präsidium versammelt waren, kam plötzlich die Polizei, in Uniform und mit Karabinern und hat sich vor die Tore hingestellt. Da durfte keiner mehr raus. Da habe ich gleich zu meinem Vater gesagt: `Das ist nicht Gutes.' Ja, daß wir wegkommen sollten, irgendwohin, das hat man uns gesagt. Aber wohin?"

2.800 Sinti und Roma aus Hamburg und Bremen, aus dem Rheinland und Ruhrgebiet und aus den Gebieten Pfalz, Baden und Stuttgart wurden jeweils in Hamburg (Fruchthalle im Hafen), Köln (Messehalle in Deutz) und auf dem Hohenasperg bei Stuttgart einige Tage zusammengesperrt und mit drei Zügen der Reichsbahn nach Osten verschleppt. Diese Deportation war zugleich auch ein Test für das Zusammenspiel zwischen Reichsbahn, Polizei und SS - man sammelte Erfahrungen für die folgenden Deportationen von Juden, Sinti, Roma und anderen Verfolgten.

Im Bericht von Herrmann W. heißt es weiter: Ja, im Zug, was sollten wir denn sagen?! Die Frauen haben natürlich geweint. Daß das schlimm war und daß auf uns etwas zukommt, das war klar. Da haben auch viele Männer geweint. Bei den Juden war's doch genauso. Die haben's ja auch nicht geglaubt, daß sie nach Auschwitz kommen. Bis zuletzt haben die es nicht geglaubt! Man hat immer noch Hoffnung gehabt." Die Polizei sah das etwas anders. Im Erfahrungsbericht eines mitreisenden Beamten finden wir den Satz: Eine werdende Mutter ist besser zu transportieren und zu behandeln als eine stillende Mutter."7

In Polen wurden die Angehörigen von Herrmann W. von der SS unter unmenschlichen Bedingungen als Arbeitssklaven eingesetzt: in Steinbrüchen, im Straßenbau, in der Rüstungsindustrie. Andere kamen direkt in die Konzentrationslager. Die Pfälzer Sinti wurden zunächst östlich von Krakau in das Konzentrationslager Mnichov gesperrt und von dort aus zur Zwangsarbeit in weitere Lager deportiert. Die Sinti aus dem Raum Heidelberg-Mannheim-Ludwigshafen kamen später in das Ghetto von Radom. Viele Sinti und Roma aus Bonn, Köln, Duisburg wurden über Konzentrationslager bei Kattowitz und Mislowitz in das Warschauer Ghetto und nach Auschwitz gebracht.

Ich wußte nicht einmal, ob meine Eltern noch lebten."

Herrmann W. hat auch von Massenerschießungen durch die Wehrmacht und die Einsatzgruppen der SS berichtet, zum Beispiel von einer sogenannten Geiselerschießung" in Radom, bei der viele seiner Verwandten ermordet wurden, nachdem sie sich ihr eigenes Grab hatten schaufeln müssen, und von den Vergasungswagen in Buskow: es handelte sich um abgedichtete Busse, in denen die SS Polen und Sinti mit den Autoabgasen erstickte. Heute noch sind das für Herrmann W. keine alten Geschichten, sondern quälende Alpträume: Eines Tages - da war ich so etwa sechzehn Jahre alt - haben die von der SS meinen Vater geschlagen. Ich habe mich vor ihn gestellt, daß der Vater keine Schläge kriegt. Zur Strafe hat man mich am nächsten Tag abgeholt und ich kam ins Lager. Da war ich dann bis 1948 von meiner Familie getrennt. Ich wußte nicht einmal, ob meine Eltern noch lebten."

Die Völkermordpolitik der Nationalsozialisten war in ihrem gesamten Ausmaß nur deshalb möglich, weil nahezu die gesamte deutsche Bürokratie vom Einwohnermeldeamt und Finanzamt bis zur Reichsbahn an der Durchführung des Vernichtungsprogramms in Deutschland beteiligt war. Weil die Bevölkerung die Augen verschloß und zuschaute. Und weil die Kirchen schwiegen.

Die Mordabsichten wurden auf höchster Ebene keineswegs verschleiert. Ganz unverhohlen sprachen und schrieben die NS-Führer von der geplanten Ausrottung. Für Hitler, Himmler, Göring, Goebbels und die Hierarchie des NS-Staates war der Völkermord beschlossene Sache. Ein deutlicher Beleg ist dafür ein Schreiben des Reichsministers der Justiz, Thierack, vom 12. Oktober 1942 an den Reichsleiter Bormann im Führerhauptquartier: "Sehr geehrter Herr Reichsleiter, unter dem Gedanken der Befreiung des deutschen Volkskörpers von Polen, Russen, Juden und Zigeunern und unter dem Gedanken der Freimachung der zum Reich gekommenen Ostgebiete... beabsichtige ich, die Strafverfolgung gegen Polen, Russen, Juden und Zigeuner dem Reichsführer SS zu überlassen. Ich gehe hierbei davon aus, daß die Justiz nur in kleinem Umfang dazu beitragen kann, Angehörige dieses Volkstums auszurotten."8

Der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste."

Eine weitere Variante der so offen ausgesprochenen Ausrottungspläne war das Programm der Vernichtung durch Arbeit". Die Nationalsozialisten waren daran interessiert, solange wie möglich noch die Arbeitskraft ihrer Opfer auszubeuten. Am 14. September 1942 notierte Reichsjustizminister Thierack als Ergebnis einer Aussprache mit Goebbels zwischen 13.00 und 14.15 Uhr: "Hinsichtlich der Vernichtung asozialen Lebens steht Dr. Goebbels auf dem Standpunkt, daß Juden und Zigeuner schlechthin (...) vernichtet werden sollen. Der Gedanke der Vernichtung durch Arbeit sei der beste."9

Als Sklavenarbeiter waren Sinti und Roma Opfer des Vernichtungsprogramms in SS-Unternehmen und in deutschen Rüstungsbetrieben. Sie wurden nicht nur in den großen Rüstungswerken von Siemens, Daimler-Benz, AEG, Heinkel, Messerschmitt, BMW, VW, IG Farben und Steyr-Daimler-Puch als Arbeitssklaven ausgebeutet, sondern überall in Europa auch in den kleineren Zulieferbetrieben der Rüstungsindustrie und bei Firmen wie dem heute so bekannten Bauunternehmen Philipp Holzmann. Die Arbeitsbedingungen in den einzelnen Betrieben waren ähnlich grausam und unmenschlich wie in den Konzentrationslagern selbst. Sklavenarbeit von täglich 12 bis 15 Stunden bei völlig unzureichender und mangelhafter Ernährung war die Regel; sie führte nach wenigen Wochen zu Unterernährung, Krankheit und Entkräftung und zum sicheren Tod. Hinzu kamen Tausende von Sklavenarbeitern, die von der SS bei der Arbeit mißhandelt, erschlagen und erschossen wurden. Die wenigen Überlebenden wurden bis heute nicht entschädigt.

Neben den Sammel- und Arbeitslagern gab es die Vernichtungslager. Am 16. Dezember 1942 befahl der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Himmler im sogenannten Auschwitz-Erlaß": Auf Befehl des Reichsführers SS ... sind Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft ... in einer Aktion von wenigen Wochen in ein Konzentrationslager einzuweisen."10 Himmlers Vorhaben, einige vermeintlich reinrassige" Sinti und Roma überleben zu lassen, spielte lange Zeit im Diskurs jener Historiker eine Rolle, die NS-Verlautbarungen ohne Rücksicht auf die Fakten wörtlich nehmen. Himmlers Privatideen sind jedoch Papier geblieben.

Auch Hitler wollte ausdrücklich die totale Endlösung, die Vernichtung ohne jede Ausnahme. Aus dem Führerhauptquartier schrieb der Reichsleiter der NSDAP Martin Bormann an Himmler: Diese Sonderbehandlung der sogenannten reinrassigen Zigeuner würde ein grundsätzliches Abweichen von den derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Zigeunerfrage bedeuten ... Auch der Führer würde es nicht billigen, wenn man einem Teil der Zigeuner seine alten Freiheiten wiedergäbe."11 Die Erlasse des Reichsführers SS und des RSHA nach dem Januar 1943 enthalten keine Differenzierungen nach reinrassigen" und Mischlingszigeunern" mehr. Angesichts des wahllosen Wütens der Exekutionskommandos in den besetzten Gebieten waren sie ohnehin unerheblich und hatten für die in Auschwitz praktizierte Massenvernichtung keine Bedeutung.

Im März 1943 kam dann der endgültige Befehl: Die Einweisung erfolgt ohne Rücksicht auf den Mischlingsgrad familienweise in das Konzentrationslager ... Auschwitz."12

Im Reichsgebiet begann daraufhin das große Aufräumen", die Endlösung. Unter Mithilfe der Bevölkerung machte die Polizei Jagd auf die letzten Opfer. Vor der Deportation erklärte man ihnen, jeder bekäme ein Stück Land im Osten. Die Realität aber war ein gesondertes Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau.

Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höss und der in der Folterabteilung im Todesblock 11 beschäftigte Pery Broad berichten in ihren Aufzeichnungen über das sogenannte Zigeunerlager". Der SS-Mann Broad schreibt: Es waren Mädchen, die in Wehrmachtsdienststellen als Stenotypistinnen tätig waren, Arbeiter der Organisation Todt, Schüler von Konservatorien und andere Menschen, die eine solide Existenz besaßen".13 Hunderte von Soldaten, die nicht einmal wußten, daß sie als Zigeuner-Mischlinge" galten, wurden vom Fronteinsatz herausgeholt, mußten ihre Uniform ausziehen. Darunter waren Träger des eisernen Kreuzes und anderer militärischer Auszeichnungen.

Die hat's am besten, sie hat den Verstand verloren ..."

Die Sterblichkeitsrate im Zigeunerlager" war besonders hoch. Von den etwa 23.000 Menschen, die dort zwischen Februar 1943 und Juli 1944 zusammengepfercht wurden, starben über 13.000 an Unterernährung und Seuchen und infolge der Mißhandlungen durch die SS-Wachmannschaften. Über die Zustände im Krankenbau berichtet Hermann Langbein, ein Häftlingsschreiber, der die Hölle dieses Lagers überlebte: Der Boden in der Baracke war gestampfte Erde, es gab keinerlei hygienische Einrichtungen. Da liegen auf einem Strohsack sechs Babys, sie können erst ein paar Tage alt sein. Wie schauen sie aus. Dürre Glieder und einen aufgetriebenen Bauch. Auf den Pritschen nebenan liegen Mütter, ausgezehrt, brennende Augen. Eine Frau singt leise vor sich hin. `Die hat's am besten, sie hat den Verstand verloren', sagt mein Begleiter. Die Hauptsorge der SS war, daß jedes neugeborene Kind sofort die Häftlingsnummer eintätowiert bekommt, damit - wenn es stirbt - richtig verbucht werden kann, wer gestorben ist. Da die Arme der Babys dafür zu klein waren, wurden diesen die Nummer in den Oberschenkel eingestochen."14

Außer dem Programm Vernichtung durch Arbeit", den Geiselerschießungen, den Massenmorden durch Einsatzgruppen hinter der Front, dem Tod im Lager, der Vergasung von Kranken und nicht Arbeitsfähigen hatte das Völkermordprogramm noch eine weitere, bestialische Variante: die Menschenversuche der KZ-Ärzte. Im Dienste verschiedener Arzneimittelfirmen wurden riskante neue Medikamente und Impfstoffe ausprobiert, an denen zahlreiche Häftlinge starben. Universitätsprofessoren bestellten sich Sinti aus den Konzentrationslagern, um Fleckfieberversuche durchzuführen. Für die Luftwaffe wurde unter anderem auch in Dachau und Buchenwald die Meerwassertrinkbarkeit getestet. In Auschwitz holte sich Lagerarzt Dr. Mengele zu Forschungszwecken Zwillingskinder aus den Zigeunerbaracken". Vor allem Kinder mit seltenen Augenfarben waren seine bevorzugten Opfer. Verschiedene Sterilisationsexperimente mit Injektionen und Röntgenstrahlen wurden in mehreren Konzentrationslagern auch an Sinti und Roma vorgenommen. Viele Männer und Frauen fanden dabei den Tod.

Anfang August 1944 wurde das Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Von den laut Lagerbuchführung rund 21.000 Häftlingen waren noch etwa 4.000 am Leben. Die Arbeitsfähigen wurden in andere Lager verlegt. 2.897 Personen, vor allem Alte, Frauen und Kinder blieben zurück. Sie wurden vergast.

Am nächsten Morgen ... war das Zigeunerlager leer"

Die Zahlen der in den anderen Lagern Ermordeten sind nur vereinzelt überliefert. Insgesamt, so wird von den Historikern geschätzt, fielen 500.000 Sinti und Roma dem Holocaust zum Opfer. Doch nicht die große Zahl, jedes einzelne Schicksal dokumentiert das Ungeheuerliche: Am nächsten Morgen ... war das Zigeunerlager leer", schreibt die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger. Da kamen plötzlich zwei Kinder von drei und fünf Jahren aus ihrem Block, die, in ihre Decken eingemummelt, alles überschlafen hatten." Die beiden Kleinen hielten einander an der Hand, weinend ob ihrer Verlassenheit. Sie wurden nachgeliefert."15

Herrmann W. gehörte zu den Wenigen, die davonkamen. Als 18jähriger war er noch arbeitsfähig, wurde von Auschwitz nach Sachsenhausen transportiert, zur Rüstungsproduktion in den Heinkelwerken. Doch als die Sowjetarmee immer näher kam, wurde der Häftling schnell noch mal wieder deutschgemacht" und als Kanonenfutter" an die Front gestellt: Zum Schluß, die letzten zwei Monate, waren wir noch hundertsiebzig Mann, alles Sinti. Da sind wir eingezogen worden und kamen gleich an die Front. Da haben wir zwei Eierhandgranaten gekriegt, ohne daß wir vorher Soldaten waren. Aber wir wurden ja bewacht, die SS war immer hinter uns. Das war ein Todeskommando, der letzte Kampf. Die meisten Soldaten waren schon auf dem Rückzug. Aber uns haben sie immer noch vorgeschickt, ins Feuer. Ich wollt' ja gleich überlaufen. Aber das war schwierig. Die von der SS hätten uns doch umgelegt. Bis sie dann selbst gemerkt haben, daß es nicht mehr weitergeht. Gegen die Maschinengewehre und die Artillerie der Roten Armee. Und plötzlich waren sie weg, unsere Bewacher von der SS. Wie vom Erdboden verschwunden. Und ich bin dann von den Russen geschnappt worden. Doch für mich war das eine Befreiung. Ich mußte jetzt ja nicht mehr um mein Leben fürchten. Man hatte nicht mehr die Angst, daß man jede Sekunde umgebracht wird. Und so kam ich in Kriegsgefangenschaft nach Rußland - drei Jahre lang. Nur wegen der Uniform. Da war ich dann Deutscher." Als ein russischer Arzt hört, daß Herrmann W. Sinto ist, wird er heimgeschickt. Ein Opfer des Faschismus" habe doch gar nichts zu suchen in der Kriegsgefangenschaft.

Herrmann W. ist dreiundzwanzig, als er 1948 wieder zurück in seine Heimatstadt kommt. Acht Jahre seines Lebens hat er verloren, seine ganze Jugend. Sein Bericht endet mit den Worten: Von meinen Verwandten waren nicht mehr viele am Leben. Drei meiner Geschwister mit ihren Kindern waren umgekommen. Auch mein Onkel mit seiner Frau und den acht Kindern - also, man kann sagen: die meisten Sinti sind nicht mehr zurückgekommen."


1 Der vorliegende Aufsatz übernimmt - erweitert und überarbeitet - Ergebnisse von Michail Krausnick: Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma. Gerlingen 1995.

2 Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" und Reichsbürgergesetz" vom 15.9.1935. In: Reichsgesetzblatt 1935, I, S. 1146 f.

3 Runderlaß des Reichsministers des Innern vom 3.1.1936 über die Durchführung des Blutschutzgesetzes", nach Kurt Pätzold (Hg.): Verfolgung, Vertreibung, Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus. Leipzig 1983, S. 121 f.

4 Adolf Würth: Bemerkungen zur Zigeunerfrage und Zigeunerforschung in Deutschland. In: Anthropologischer Anzeiger, Stuttgart, August 1938.

5 Herrmann W., Tonbandinterview, Archiv des Verfassers, vgl. auch Michail Krausnick: Abfahrt Karlsruhe. Karlsruhe 1990.

6 Runderlaß des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren vom 8.12.1938 über die Bekämpfung der Zigeunerplage". In: Ministerialblatt des Reichs- und Preußischen Ministers des Inneren, Jg. 99, Nr. 51, S. 2105-2110.

7 Wolfgang Wippermann: Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung. In: Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit. Frankfurt 1986, S. 32, Betrifft: Erfahrungen bei der Umsiedlung von Zigeunern, gezeichnet Feik, Kriminalinspektor.

8 Dokumente des Internationalen Militärgerichtshofs Nürnberg, NO1784. Vorausgegangen waren eine Besprechung Thieracks mit Goebbels (14.9.) und die Vereinbarung mit Himmler vom 18.9.: das Programm der Vernichtung durch Arbeit" betrifft neben Russen, Ukrainern und Juden auch die Zigeuner".

9 Nürnberger Dokumente, PS-682.

10 Auschwitz-Erlaß" vom 16. Dezember 1942. Der Befehl des Reichsführers SS, auf den im Schnellbrief vom 29.1. Bezug genommen wird, liegt nicht vor.

11 Brief Martin Bormanns an den Reichsführer SS Heinrich Himmler vom 3.12.1942, Bundesarchiv, NS19 neu/180.

12 Schnellbrief des RSHA vom 29.1.1943. In: Institut für Zeitgeschichte München, Dc 17.02.

13 Pery Broad: Erinnerungen. In: KL Auschwitz in den Augen der SS, Höss, Broad, Kremer. Katowice 1981, S. 185f.

14 Herrmann Langbein: Das Zigeunerlager", vgl. Tilman Zülch: In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt. Reinbek 1979, S. 134f., sowie Statement im TV-Film: Rose/Krausnick: Auf Wiedersehen im Himmel", SWF/ARD 1994.

15 Lucie Adelsberger: Zigeunernacht. In: Auschwitz, ein Tatsachenbericht. Berlin 1956. 



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