Didaktische Reihe
Band 16

Reicht der
Beutelbacher Konsens ?

 

Hrsg. von
Siegfried Schiele
Herbert Schneider


1996


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Siegfried Schiele

Der Beutelsbacher Konsens kommt in die Jahre


Beutelsbach hat Wirkung erzielt

Vor einigen Monaten sagte mir der zuständige Referent für politische Bildung in einem Oberschulamt: "Den Beutelsbacher Konsens kennt sogar mein schlechtester Politiklehrer". Als sich vor zwanzig Jahren Didaktiker verschiedener Richtungen in Beutelsbach versammelt hatten, hätte niemand prophezeien können, daß die Ergebnisse der Tagung ein solches Echo haben würden. Ohne Übertreibung kann man feststellen, daß der Beutelsbacher Konsens eine wichtige Orientierungsmarke für die politische Bildung in Deutschland geworden ist.

Zunächst hat er die zerstrittenen Lager im Bereich der politischen Bildung zusammengeführt und wieder gesprächsfähig gemacht. Die Hessischen Rahmenrichtlinien und entsprechende Gegenreaktionen hatten das Klima vergiftet und die politische Bildung zur Arena der politischen Auseinandersetzung gemacht. Im Beutelsbacher Konsens kommt dagegen zum Ausdruck, daß politische Bildung eine pädagogische Veranstaltung ist, die nur erfolgreich betrieben werden kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Mit dem Beutelsbacher Konsens wurde ein Stoppschild errichtet, das klar zum Ausdruck brachte: Politische Bildung ist nur möglich, wenn sie nicht politisch instrumentalisiert wird.

Von diesem Konsens profitierten verschiedene Lehrpläne für Sozial- und Gemeinschaftskunde wie auch die politische Bildung im Bereich der Bundeswehr. Auch für die neuen Bundesländer schien der Beutelsbacher Konsens attraktiv, wenn sich auch bei näherer Betrachtung herausstellte, daß er weniger Ziele formuliert als vielmehr Voraussetzungen für ersprießliche politische Bildungsarbeit festlegt.

Bis heute kann ich nicht feststellen, daß dem Beutelsbacher Konsens insgesamt widersprochen wurde. Bei einzelnen Thesen wird das eine oder andere angemerkt - vgl. dazu auch verschiedene Beiträge in diesem. Band -, aber der Kernbestand scheint unbestritten (1). Das ist ein nach zwanzig Jahren erstaunlicher Befund. Man darf ja nicht vergessen, daß es sich beim Beutelsbacher Konsens nicht um ein Abkommen oder gar einen Vertrag handelt, sondern lediglich um von Hans-Georg Wehling formulierte Protokollpunkte der Beutelsbacher Tagung im Jahr 1976, denen niemand widersprochen hat. Gerade in dieser offenkundigen Unverbindlichkeit scheint die Stärke des Konsenses zu liegen.

Walter Gagel stellt in diesem Band den Beutelsbacher Konsens in den zeitgeschichtlichen Rahmen. Man darf den Kontext der Jahre nach 1968 nicht vergessen, um überhaupt das Anliegen, das mit dem Konsens verbunden ist, zu verstehen. Um so mehr müssen wir heute fragen: Ist der Beutelsbacher Konsens noch aktuell? Ist er noch von Bedeutung? Oder: Reicht der Beutelsbacher Konsens?

Bei der Tagung in Bad Urach sagte ich: "Der Beutelsbacher Konsens ist immer noch richtig, aber wahrscheinlich nicht mehr so wichtig." Dieser These wurde teilweise widersprochen. Wir können die Frage der Bedeutung für die heutige Zeit nicht verbindlich klären. Mir scheint jedoch das Konsensbedürfnis im Bereich der politischen Bildung nicht mehr so stark entwickelt wie vor zwanzig Jahren. Das hängt sicherlich damit zusammen, daß die Beutelsbacher Grundsätze zum Allgemeingut geworden sind. Es spielt auch eine Rolle, daß politische Bildung eine wesentlich geringere Rolle zu spielen scheint als in den sechziger und siebziger Jahren. Die Lage könnte sich eines Tages wieder ändern. Dann müßte man wieder auf die Orientierungsmarke "Beutelsbach" zurückkommen.

Heute stehen eher andere Fragen an. Haben sich die Probleme nicht gewaltig verändert? Was machen wir mit den globalen Gefährdungen? Und fällt unsere Gesellschaft nicht auseinander, so daß die notwendigen Anstrengungen zur Problembewältigung gar nicht unternommen werden können? Müssen wir auf diesem Hintergrund nicht den Beutelsbacher Konsens ergänzen? Bevor ich zu diesen Fragen komme, möchte ich auf die Beutelsbacher Thesen noch einmal eingehen.


Das Überwältigungsverbot

Das Überwältigungsverbot ist nach wie vor das A und O politischer Bildung, vielleicht auch jeglicher Bildungsarbeit überhaupt. Ohne seine Beachtung verliert politische Bildung jeden Wert und jede Berechtigung. Im Prinzip ist es Ausdruck des Schlüsselsatzes unseres Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Wir müssen also den Menschen als Subjekt des pädagogischen Prozesses ansehen, der nicht manipuliert und "benutzt" werden darf. Viele werden einwenden, das sei doch selbstverständlich, quasi eine Binsenweisheit, die doch überall Beachtung finde. Das glaube ich nicht. Vor wenigen Wochen schrieb mir ein Lehrer zum Überwältigungsverbot:

"Für Sie noch ein Beispiel, wie gegenläufige Kräfte in der Schule Platz greifen: Es geht vor allem um die Verabsolutierung des Tierschutzes; an der Schule, an der ich mein Schuldeputat habe, wurden jetzt alle Schülerinnen und Schüler der Klassen 5-7 (mit Überwältigung muß man so früh wie möglich anfangen) durch den Schulleiter samt ihren Klassenlehrerinnen und Klassenlehrern zum gemeinsamen Besuch des Films 'Ein Schweinchen namens Babe' 'verpflichtet'. Biologielehrer wurden aufgefordert, dementsprechend Unterricht zu halten, Deutschlehrer sollten in weiteren Lektüren und Diktaten (ohne Gegenpositionen) so arbeiten, wie sie es auch schon in einem früheren Fall taten, im Umfeld des Besuches von 'Free Willy'. Für 'bessere Ziele' werden dabei zwei (oder vielleichtsogar alle drei) Grundsätze aus dem 'Beutelsbacher Konsens' geopfert."

Das ist bestimmt kein Einzelfall. Und es gibt noch wesentlich sublimere Beispiele von Überwältigung. Es wäre ein lohnendes Unterfangen, einmal Unterrichtsmethoden und Lehrerverhalten daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie - meist unbeabsichtigt - Elemente von Überwältigung enthalten.

Ich kann nur dazu raten, den ersten Beutelsbacher Grundsatz feierlich und für immer aufs neue zu bekräftigen. Transparenz ist übrigens die wesentlichste Hilfe bei der praktischen Umsetzung dieses Grundsatzes. Nur wer seine Ziele eindeutig und unmißverständlich offenlegt, liefert einen wichtigen Nachweis dafür, daß keine Überwältigung vorliegt. Politische Bildung in einer Demokratie muß das Gegenteil von politischer Instrumentalisierung sein.

An dieser Stelle muß auch darauf hingewiesen werden, daß alle "Feuerwehr-Theorien" politischer Bildung das Überwältigungsverbot mißachten. Man kann nicht - in noch so guter Absicht - ein gesellschaftliches Krisenphänomen mit politischer Bildung kurzfristig "bekämpfen" wollen. Dafür sind die Arme politischer Bildung nicht geeignet und außerdem zu kurz. Nach wie vor sollten wir sensibel werden, wenn politische Bildung als ein Instrument angesehen wird.


Das Kontroversitätsgebot

Den größten praktischen Nutzen scheint nach wie vor das Kontroversitätsgebot zu haben. Im Prinzip hängt es eng mit dem Überwältigunsverbot zusammen. Es ist gleichsam ein Weg, wie man Überwältigung vermeiden kann. Außerdem ist dieses Gebot leicht überprüfbar. Man kann schnell feststellen, ob bei einer wichtigen politischen Kontroverse maßgebliche Standpunkte im politischen Unterricht unterschlagen werden oder nicht. Dieser zweite Beutelsbacher Grundsatz zwingt zur Öffnung von engen Perspektiven und bringt frische Luft und Leben in die politische Bildung. Dieses Kontroversitätsgebot kann auch diejenigen beruhigen, die Konsens mit Harmonie verwechseln und die zu wenig berücksichtigen, daß ein Minimalkonsens nötig ist, nicht um seine Ruhe zu haben, sondern um eine Plattform für die notwendigen politischen Auseinandersetzungen um die besten Lösungen zu haben. Wir brauchen in Deutschland noch eine Streitkultur. Die politische Bildung kann ihr den Weg bereiten helfen.

Es versteht sich fast von selbst, daß ich die kontroversen Positionen im politischen Unterricht nicht ad infinitum ausdehnen kann. Das geht schon aus praktischen Gründen nicht. Darum habe ich schon vor Jahren den Vorschlag gemacht, daß sich politische Bildung im öffentlichen Auftrag an den Konfliktlinien in unseren Parlamenten orientieren sollte (2). Man kann davon ausgehen, daß alle wichtigen politischen Kontroversen auf Landes-, Bundes- und Europa-Ebene in den Parlamenten ausgetragen werden. Dort sind die verschiedenen Positionen auch klar bestimmbar, so daß es bei der Darstellung dieser Standpunkte im Unterricht auch keine Probleme geben kann. Was ist aber dann mit Positionen, die außerhalb unserer Parlamente vertreten werden? Wir sollten nicht zu ängstlich sein und das Spektrum der Meinungen tendenziell eher noch offener und weiter gestalten. Die parlamentarische Auseinandersetzung kann aber als grobe Orientierung dienen.

Das größere Problem liegt zweifellos bei der Gewichtung der verschiedenen Positionen. Kommt es nur auf eine formale Aneinanderreihung unterschiedlicher Standpunkte an? Ist da nicht der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet? Ich komme auf diese zentralen Fragen noch zurück. Es kann nicht angehen, daß z.B. Positionen, die Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung predigen, einfach in einer Reihe mit demokratischen Standpunkten aufgelistet werden. Politische Bildung in einer Demokratie ist keine Lotterie. Auch für diese Problematik ist die Orieritierung an parlamentarischen Positionen in der Regel nützlich. Schwierige Fragen tauchen allerdings auf, wenn Parteien mit extremen Positionen in die Parlamente einziehen. Formal korrekter Umgang scheint dann für das Parlament wie für die politische Bildung der bessere Weg als totale Ausgrenzung.

Georg Weißeno macht meiner Meinung nach die Probleme mit dem Kontroversitätsgebot größer als sie sind (3). Bei "Meinungsgirlanden" beliebiger Art darf der politische Unterricht natürlich nicht stehen bleiben. Es geht darum, daß die unterschiedlichen Standpunkte klar und profiliert herausgearbeitet werden. Dazu reicht aller Erfahrung nach eine bloße Diskussion nicht aus. Entscheidend ist jedoch, daß am Ende einer Unterrichtseinheit verschiedene Wege zur Lösung eines politischen Problems gleichrangig nebeneinander möglich sein müssen. Die Wahl des "besten" Wegs kann der Schülerin und dem Schüler nicht abgenommen werden. Die persönliche Meinung der Lehrerin und des Lehrers ist weder störend noch besonders erhellend. Das zu behandelnde politische Problem gehört in den Blickpunkt der Klasse.

Daß auch noch unterschiedliche didaktische Zugänge dem Kontroversitätsgebot unterworfen werden sollen, wie es Georg Weißeno fordert, scheint übertrieben. Wenn die fachdidaktischen Zugänge selbst den Beutelsbacher Konsens beherzigen, dann braucht nicht noch eine weitere Metaebene berücksichtigt zu werden. Auf diese Weise würde man schließlich der praktischen Anwendung des Beutelsbacher Konsenses den Boden entziehen. Es ist jedoch verdienstvoll, solchen Fragen im wissenschaftlichen Bereich nachzugehen.

Schließlich soll in diesem Zusammenhang auch die "Proporzfrage" angeschnitten werden. Es gibt die Meinung, dem Kontroversitätsgebot könne man auch so Rechnung tragen, daß man Leute unterschiedlicher politischer Herkunft in Schulen und Bildungseinrichtungen habe. Nach und nach würden sich die verschiedenen Wirkungen wieder ausgleichen. Das wäre eine Beutelsbacher Irrlehre! Jede Unterrichtsstunde und jede Tagung, sofern sie von politischer Bildung im öffentlichen Auftrag veranstaltet werden, müssen den Geist der kontroversen Positionen zum Ausdruck bringen. Es geht ja nicht um den Transport von Gesinnungen, sondern um politische Bildung. Und von politischer Bildung kann man nur reden, wenn die Grundsätze von Beutelsbach Berücksichtigung finden. Hier muß sich die Politik davor hüten, in den Bildungsbereich die Kategorien der politischen Alltagsarbeit hineinzubringen.


Die Interessenlage

Die größten Probleme hat schon immer der dritte Beutelsbacher Grundsatz bereitet. Die Schwierigkeiten beginnen schon beim Begriff "Interesse". Es ist offenbar das meistgebrauchte Fremdwort der deutschen Sprache [4). Darum muß herausgearbeitet werden, was mit "Interesse" im Beutelsbacher Zusammenhang gemeint ist.

Wenn wir den Begriff pädagogisch fassen, haben wir die geringsten Probleme. Dann kommt es darauf an, das Unterrichtsgeschehen in Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern zu bringen. Sie müssen merken, daß es um ihre ureigenste Sache geht. Wenn es nicht gelingt, diese Beziehung herzustellen, ist der Unterricht umsonst. Es würde sich lohnen, auf diesem Hintergrund einmal Lehrpläne, Lehrbücher und konkreten Unterricht zu analysieren. Man würde sicherlich dabei feststellen, daß zuweilen Themen vorgegeben und behandelt werden, die nicht im Blickfeld der jungen Generation liegen und bei der diese auch ihre spezifischen Interessen nicht zu entdecken vermag.

Ohne Frage geht es auch darum, im Unterricht operationale Fähigkeiten zu vermitteln. Werden Schülerinnen und Schüler ernst genommen - das ist ja ein wesentliches Ziel der Grundsätze eins und zwei von Beutelsbach -, dann muß ihnen im Lauf der Zeit das methodische Instrumentarium vermittelt werden, mehr und mehr selbständig politische Probleme in den Blick zu nehmen, sie angemessen zu analysieren und zu einer selbständigen Urteilsbildung zu kommen. Das Überwältigungsverbot und das Kontroversitätsgebot fordern geradezu die Vermittlung von operationalen Fähigkeiten. Natürlich muß angemerkt werden, daß diese Trauben im Unterrichtsalltag recht hoch hängen. Schon die geringe Stundenzahl für politischen Unterricht in den verschiedenen Schularten läßt nur Elemente der Vermittlung von operationalen Fähigkeiten zu. Dennoch muß auch diese Forderung von Beutelsbach weiterhin aufiechterhalten werden. Hier gibt es, wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, einen überzeugenden Konsens.

Der Streit bricht aus, wenn der Interessenbegriff im Beutelsbacher Konsens auch politisch verstanden wird. "Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, ... die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen", heißt es im Text von Hans-Georg Wehling. Damit ist also auch unmißverständlich der politische Interessenbegriff gemeint.

Selbstverständlich ist es ein wichtiges Ziel politischer Bildung, die eigene Interessenlage im Kräftefeld politischer Auseinandersetzungen erkennen zu können. Und es spricht auch nichts gegen die Vermittlung von Fähigkeiten, die erkannte Interessenlage in das Spiel der Kräfte einzubringen und so den eigenen Interessen zu nützen. Mir scheint, daß diese Ziele im Kreis der Fachdidaktik nicht umstritten sind. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Stimmen, die diese Ziele so allein nicht stehen lassen wollen, weil sonst der Kampf aller gegen alle zum Ziel politischer Bildung erkoren wäre. Sie wollen das Eintreten für die eigene Interessenlage mit der Berücksichtigung des Wohls der Gesamtheit verbinden. Herbert Schneider hat schon bei der Tagung anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Beutelsbacher Konsenses eine Ergänzung des dritten Beutelsbacher Grundsatzes gefordert (5). Beim zwanzigjährigen Rückblick auf Beutelsbach haben die Stimmen zugenommen, die einer Ergänzung des dritten Beutelsbacher Grundsatzes das Wort reden. Das ist auf dem Hintergrund einer öffentlichen Debatte über eine zunehmende Individualisierung, ein Anwachsen der Ellbogenmentalität und einer sinkenden öffentlichen Moral auch verständlich. Die deutsche Einheit hat z.B. deutlich gemacht, daß eine politische Frage dieses Ausmaßes nicht bewältigt werden kann, wenn in einem Gemeinwesen nicht über eigene Interessen hinaus Solidarität an den Tag gelegt wird.

Wenn das ausschließliche Eigeninteresse in unserer Gesellschaft den Ton angäbe, kämen alle Schwachen unter die Räder. Und das soll durch politische Bildung noch bekräftigt werden? Das ist nie und nimmer die Botschaft von Beutelsbach! Weshalb dennoch Zurückhaltung geboten ist, wenn es um die Ergänzung von Beutelsbach geht, hängt mit der Gemeinwohlproblematik zusammen. Nach unseren geschichtlichen Erfahrungen haben wir allen Grund, mißtrauisch zu werden, wenn vorschnell das Gemeinwohl gegen das Eigeninteresse ins Spiel gebracht wird. Andererseits ist in einer Demokratie der Regierungswechsel auch deshalb ein erträgliches Geschick, weil auch Parteien ihrem Anspruch nach Vorstellungen vom Gesamtwohl haben, die ebenfalls für Nichtparteianhänger zumutbar sein müssen. Das Gemeinwohl ist nicht definierbar und wird immer politisch umstritten sein. Als regulative Idee ist es jedoch für eine demokratische Gesellschaft unverzichtbar.

Man kann unterstellen, daß auch im Jahr 1976 in Beutelsbach niemand behaupten wollte, daß "Catch-as-catch-can" eine politische Philosophie für eine Demokratie sein könne. Es schien aber damals notwendig zu sein, in der politischen Bildung stärker die Ziele zu betonen, die der Selbstentfaltung dienten. Damit wurde aber nicht behauptet, daß ein demokratisches Gemeinwesen nicht auch für alle verbindliche Bezugspunkte nötig habe.


Reicht der Beutelsbacher Konsens?

Vor allem beim 3. Beutelsbacher Grundsatz ist deutlich geworden, daß sich der Blick von 1976, der sich stärker auf das Individuum und seine Entfaltung gerichtet hatte, nun im Jahr 1996 auf die Gesellschaft weitete. Und da gibt es Sorgen, die vor zwanzig Jahren noch kaum sichtbar waren. Immer wieder wird über die Politik wie über die Medien Gemeinsinn eingefordert. Außerdem wird ein Werteverfall beklagt. Marion Gräfin Dönhoff schildert die Situation dramatisch: "Jede Gesellschaft braucht aber Bindungen: Ohne Spielregeln, ohne Tradition, ohne einen bestimmten Konsens über Verhaltensnormen kann kein Gemeinwesen bestehen, ist Stabilität unmöglich. Das entfesselte Marktsystem, dem keine ethischen Vorstellungen zugrunde liegen, zerstört nicht nur die Solidarität, sondern auf Dauer auch die Gesellschaft. Wenn es nicht gelingt, sich auf einen ethischen Minimalkonsens zu einigen, dann wird dieses System in einem "Catch-as-catch-can" enden. Es würde mich nicht wundern, wenn dann in zehn Jahren der Kapitalismus ebenso zusammenbricht wie vor kurzem der Sozialismus" (6).

Hier wird also ausdrücklich von einem "ethischen Minimalkonsens" gesprochen. Prüft man mit diesem Anspruch den Beutelsbacher Konsens, so wird man nicht leicht fündig. Wenn man die Beutelsbacher Akteure von 1976 ansieht, so muß man ja fast von einem "Konsens-Wunder" reden. Dieses Wunderwäre nicht möglich gewesen, wenn der Konsens stark inhaltlich ausgeprägt gewesen wäre. Eine Stärke ist immer das "formale Erscheinungsbild" gewesen. Man soll und darf diese formale Seite nicht unterschätzen. Auch wer den Konsens von Beutelsbach nur formal versteht, ist besser dran als jemand, der politische Bildung im öffentlichen Auftrag ohne eine solche Plattform betreiben muß. Zumindest sind bei Einhaltung des Konsenses die Schülerin und der Schüler im Mittelpunkt des pädagogischen Interesses, und sie werden im Bildungsprozeß mit unterschiedlichen Meinungen konfrontiert. Das ist schon viel!

In Bad Urach hat sich nun im Jahr 1996 herausgestellt, daß niemand Einspruch erhob, wenn der Beutelsbacher Konsens auch inhaltlich interpretiert wurde. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß das Überwältigungsverbot nichts anderes bedeutet, als was der Kernsatz unseres Grundgesetzes in Artikel 1 verkündet. "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Weil das so ist, darf niemand an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" gehindert werden. Darum ist jede Indoktrination verboten.

Auch im zweiten Grundsatz von Beutelsbach stecken Wertbezüge. Wenn ich die Kontroverse in die Schulstube und in die Tagungsstätte bringe, dann drückt sich darin die Achtung vor anderen Meinungen aus. Nur mit Respekt und Toleranz läßt sich dieser Grundsatz tagaus und tagein praktizieren.

Nun haben wir schon gesehen, daß unterschiedliche Meinungen nichts mit Beliebigkeit zu tun haben. Und es ist auch klar, daß die möglichen Kontroversen abnehmen, je mehr wir uns dem Kern des Grundgesetzes nähern. Es kann sehr verschiedene Vorstellungen darüber geben, wie Steuergerechtigkeit in einer Gesellschaft gestaltet werden kann, aber es kann z.B. keine Kontroverse darüber geben, ob Gewalt ein legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung sein kann. Hier kommen die Wertbezüge klar zum Vorschein.

Am schwierigsten ist die Lage beim dritten Beutelsbacher Grundsatz. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte es so aussehen, als werde der Trend zum Egoismus durch die politische Bildung noch gefördert. Bei einer solchen Interpretation übersieht man jedoch, daß dieser Grundsatz eng mit dem Überwältigungsverbot und mit dem Kontroversitätsgebot zusammenhängt. Der einzelne soll seine Fähigkeiten voll entfalten, um die bürgerschaftliche Rolle kompetent wahrnehmen zu können. So gesehen kann auch dieser Grundsatz mehr als nur formale Bezüge signalisieren.

Dennoch soll und kann man darüber diskutieren, ob und wie man "Beutelsbach" konkretisieren und auch für die Zukunft lebendig halten kann. Herbert Schneider präzisiert in seinem Beitrag in diesem Band seine Ergänzung zum dritten Grundsatz von Beutelsbach von vor zehn Jahren (7). Hier ist vom "wohlverstandenen Eigeninteresse" und von der "Mitverantwortung für das soziale Zusammenleben und das politische Ganze" die Rede. In eine ähnliche Richtung gehen die Vorschläge, die Gotthard Breit und Wolfgang Sander auch in diesem Band als Ergänzung zum Beutelsbacher Konsens vorlegen. Breit benennt "Freiheit" und "Demokratie" ausdrücklich als Bezugspunkte des politischen Unterrichts, und Sander bettet politische Bildung in den Kontext einer "demokratischen politischen Kultur".

Große Probleme kann ich bei diesen Ergänzungen nicht erkennen. Sie weisen auf den Bezugsrahmen hin, der für politische Bildung gegeben ist. Auch der Beutelsbacher Konsens stand ja bislang nicht im luftleeren Raum. Er steht im Rahmen einer politischen Kultur, die sich der Entwicklung der freiheitlichen Demokratie verschrieben hat. Auch unser Grundgesetz gehört zu den wichtigen Rahmenbedingungen. Freilich sorgt der Beutelsbacher Konsens dafür, daß die freiheitliche Demokratie der jungen Generation nicht quasi gegen den Willen übergestülpt wird. Im pädagogischen Prozeß eignen sich aber Schülerinnen und Schüler die Prinzipien unserer freiheitlichen Ordnung selbständig und ohne jeden Druck an. Nur auf diese Weise kann es auch zu gefestigten Überzeugungen kommen, die für die Tradition unserer politischen Kultur so wichtig sind. So betrachtet ist eine Ergänzung des Beutelsbacher Konsenses gar nicht nötig. Wir haben gesehen, daß selbst ein rein formales Verständnis keinen Schaden anrichtet, wenn es sich dabei nicht gar um ein Kunstprodukt handelt, das in der Realität in Reinkultur gar nicht vorkommen kann. Oder ist es z. B. vorstellbar, daß es in der Staatsbürgerkunde der DDR den Beutelsbacher Konsens gegeben hätte? Er paßt nur in den Rahmen einer freiheitlichen Demokratie. Darum muß er meiner Meinung nach nicht ergänzt werden.

In Bad Urach klang an, ob man den Konsens nicht positiv fassen könne, da er in der jetzigen Form fast im Stil der Zehn Gebote über den Häuptern schwebe. Das kann man versuchen, weil das Anliegen, das mit dem Beutelsbacher Konsens verbunden ist, dann noch besser zum Vorschein käme. Meines Erachtens müßte eine Neufassung in diese Richtung gehen:

1. Die Schülerinnen und Schüler gewinnen im politischen Unterricht ein selbständiges Urteil. So sind sie vor Manipulation und Indoktrination gefeit.

2. Ein selbständiges Urteil gewinnt man bei der offenen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen und Standpunkten im Unterricht. Die Kontroverse ist das Salz politischer Bildung.

3. Operationale Fähigkeiten sind wichtig auf dem Weg zu einem selbständigen Urteil. Sie werden auch benötigt, um für die eigenen Interessen und die Interessen der Gesamtheit einzutreten.


Werteerziehung im politischen Unterricht

Trotzdem wird manchem der Beutelsbacher Konsens als eine zu unverbindliche und zu schmale Plattform erscheinen. Die Probleme, die Tag für Tag in den Medien dargestellt werden, erscheinen so drastisch, daß stärkere Medizin nötig wäre. Vor allem wird beklagt, daß der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft verlorengegangen sei. Meinhard Miegel klagt: "Ihrem Wesen nach ist unsere Gesellschaft ungesellschaftlich. Sie ist über weite Teile kaum mehr als eine Ansammlung von Individuen, die mehr oder weniger unverbunden nebeneinander stehen" (8). Und Erwin Teufel beschreibt die Lage so: "Lebten wir auf Kuba oder in China, müßten wir uns vorrangig für die Realisierung und den Ausbau der individuellen Freiheitsrechte einsetzen. In unserer Gesellschaft haben wir aber einen Grad von individueller Freiheit erreicht, der mich fragen läßt, ob wir künftig die soziale Verantwortung gegenüber den Mitmenschen und dem Gemeinwesen nicht stärker betonen müssen" (9). Die Problematik liegt in der Unschärfe des Verbs "betonen". Wir wissen alle, daß es mit Appellen nicht getan ist. Viele denken an die Erziehung und besonders an die politische Bildung, wenn es um soziale Verantwortung dem Gemeinwesen gegenüber geht. Mit dem "Beibringen" sozialer Tugenden im Unterricht ist es ja nicht getan. Die Wissensvermittlung kann man im Klassenbuch abhaken. Aber Wissen allein ist ja keine hinreichende Bedingung für richtiges Handeln.

Dadurch, daß man der Schule und speziell der politischen Bildung komplizierte Aufgaben überträgt, ist die Gesellschaft insgesamt noch nicht entlastet. Gerade Fragen der Tugend, Moral und Ethik entziehen sich fast auf wundersame Weise der Unterrichtung. Die Länge der Belehrung steht in der Regel im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit (10). Wenn Bildungsarbeit in dieser Hinsicht überhaupt etwas erreichen kann, dann nur auf dem Weg der Verbindung von rationalen mit emotionalen Elementen im Unterricht. Je eher sich nämlich die Sachinformationen vom konkreten Umfeld abkoppeln, desto eher tritt bei Schülerinnen und Schülern eine Dissonanz auf, die dazu führen kann, daß das Gegenteil von dem erreicht wird, was kognitiv angestrebt war.

Erziehung zu Werten wird leicht mit Moralisieren verwechselt. Politische Bildung ist aber das Gegenteil von Predigen. Wird vor allem moralisiert, dann wird durch eine gesunde Abwehrhaltung der Betroffenen eher das Gegenteil erreicht. Dabei wird übrigens auch der Charakter des Politischen verfehlt (11). Unterschiedliche Wertvorstellungen sind ein wichtiger Faktor politischer Konflikte, die nicht ausgeblendet werden sollten. Unterschiedliche Wertevorstellungen beleben eine Gesellschaft und ermöglichen auch Freiheit. Nur ein Minimum von Konsens darf nicht unterschritten werden, damit der Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft nicht reißt. Ich zweifle, ob die politische Bildung mehr als den Beutelsbacher Konsens bei dieser Frage einbringen kann. Die gesamte Gesellschaft muß sich so verhalten, daß die notwendigen Werte gelebt und erfahrbar werden. Die Schule zum Labor zu machen reicht nicht aus. Wenn die Schule eine stärkere Wirkung entfalten soll, dann muß sie - wie Herbert Schneider es in seinem Beitrag in diesem Band fordert - zu einem Lebensraum umgestaltet werden, in dem sich die Gesellschaft echt abbildet.


Dem Jahr 2000 entgegen

Wenn wir im Jahr 1996 auf20 Jahre Beutelsbacher Konsens zurückblikken, könnte man entgegenhalten: Was soll diese Nostalgie anläßlich einer völlig veränderten Problemlage? Müssen wir nicht alle Energie bündeln, um mit den Überlebensfragen der Menschheit fertig zu werden?

Es sieht wirklich nicht gut aus. Vor den Problemen die Augen zu verschließen, wäre die schlechteste Lösung. Pädagoginnen und Pädagogen dürfen aber trotz allem den Optimismus nicht verlieren, weil man ohne ihn Bildung nicht vermitteln kann.

Im Zusammenhang mit dem Beutelsbacher Konsens stoßen wir in globaler Hinsicht an Grenzen. Wir haben gesehen, daß er - Gotthard Breit führt das in seinem Beitrag deutlich aus - in den Kontext der Entwicklung der freiheitlichen Demokratie gehört. Was geschieht aber, wenn in globalem Maßstab Kulturen aufeinanderprallen, die hinsichtlich fundamentaler Grundsätze unvereinbar sind? Der Regierungschef von Malaysia, Mahashir Mohamad, erklärte in einem Spiegel-Interview u.a.: "Amnesty vertritt das westliche Wertesystem. Sie sitzen auf dem hohen Roß und glauben, sie könnten der Welt erzählen, wie sie sich zu verhalten hat. Wer gibt ihnen das Recht dazu, Regeln aufzustellen, nach denen sich die ganze Welt richten soll? ... Die Menschenrechtskonvention ist eine Erfindung des Westens. Wir hatten keine Möglichkeit, ihre Inhalte mitzubestimmen; sie wurden uns aufgezwungen" (12). Hier wird deutlich, daß das Kontroversitätsgebot von Beutelsbach in globalem Maßstab an Grenzen stößt.

Neben der Frage, wie man das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen organisieren soll, gibt es Probleme von ähnlich globaler Bedeutung in ökologischer Hinsicht. Gibt es Wege, unsere Erde nachfolgenden Generationen lebenswert zu erhalten, oder werden wir mit der Umweltzerstörung nicht fertig? Oder wie steht es mit dem Nord-Süd-Konflikt, der auch eine globale Gefährdung für künftige Generationen bedeutet, wenn sich die reichen Nationen nicht um strukturelle Lösungen kümmern? Und wie sieht es mit der technologischen Entwicklung aus, die kaum mehr politisch zu kontrollieren ist? Wie werden zerstörerische Marktkräfte unter Kontrolle gebracht? Fragen über Fragen, an denen verantwortliche und aktuelle politische Bildung nicht vorbeigehen kann.

In diesem Rahmen können diese drängenden Probleme nicht angemessen behandeltwerden. Ich möche sie nur in den Blickpunkt rücken, um Beutelsbach ein bißchen zu relativieren und darauf hinzuweisen, daß der Beutelsbacher Konsens im Vergleich zu diesen wachsenden Problemen in die Jahre gekommen ist. Beutelsbach hilft z.B. mit einer kontroversen Diskussion nicht weiter, wenn es darum geht, wie das Ozonloch geschlossen werden kann.

Das bedeutet jedoch keinen Abschied vom Beutelsbacher Konsens. Er wird für die politische Bildung auch künftig eine wichtige Richtschnur bleiben. Und wir brauchen seinen offenen, auf die Würde des Menschen zielenden Ansatz auch dann, wenn es um die Behandlung globaler Problemlagen geht.


Anmerkungen

1 Inzwischen liegt sogar eine Dissertation vor, die sich mit der dritten These des Beutelsbacher Konsenses auseinandersetzt: Huh, Young-Sik: Interesse und Identität. Eine Untersuchung zu Wertbezügen, Zielen, Inhalten und Methoden des politischen Unterrichts nach dem Beutelsbacher Konsens. Frankfurt/M.1993

2 Vgl. Schiele, Siegfried: Politische Bildung im öffentlichen Auftrag - Chancen und Gefahren. In: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Hrsg.): Politische Bildung im öffentlichen Auftrag. Stuttgart u.a.1982, S. 23f.

3 Vgl. den Beitrag von Georg Weißeno in diesem Band

4 Nach Grammes, TilmanKaspar, Thomas H.: Interesse - eine fachdidaktische Kategorie? In: Politische Bildung 2/93, S. 57-75, S. 57

5 Schneider, Herbert: Ergänzungsbedürftiger Konsens? Zum Identitäts- und Identifikationsproblem in der politischen Bildung. In: Schiele, Siegfried/Schneider, Herbert (Hrsg.): Konsens und Dissens in der politischen Bildung. Stuttgart 1987, S. 27-47

6 In: Die Zeit Nr. 6, 2. Februar 1996, S. 6

7 Vgl. Anmerkung 5

8 Miegel, Meinhard in: FAZ vom 2.4.1996, Nr. 79, S. 9

9 Teufel, Erwin: Den Wertewandel nicht beklagen, sondern gestalten - Chancen und Aufgaben der Politik. In: Teufel, Erwin (Hrsg.): Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Frankfurt/M.1996, S. 321-333, S. 327

10 Vgl. Uhl, Siegfried: Werte-Erziehung in der heutigen Schule: Kunst des Möglichen. In: Lehren und Lernen 1/1995, S. 4-17

11 Vgl. Schiele, Siegfried: Werte in der politischen Bildung. In: Klein, Ansgar (Hrsg.): Wertediskussion im vereinten Deutschland. Köln 1995, S.170-173

12 In: Der Spiegel 34/1995, S.136-139


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